„Allerdurchlauchtigster, Großmächtiger König, Allergnädigster König und Herr!“

Sog. „Immediat-Eingabe“ des Bürgermeisters und Gemeinderats an den preußischen König vom 30.12.1849 – Ein Dokument der kommunalen Verzweiflung.

[1]

a)    Situation und Anlass

Die Lage der lange landwirtschaftlich ausgerichteten, durch Subsistenzwirtschaft bestimmten und von sowohl natürlichen wie gesellschaftlichen Faktoren benachteiligten hiesigen Gemeinde hatte sich in der ersten Hälfte des 19. Jh  gegen Ende hin immens verschlechtert. Die Gemeinde hatte darum im Vorjahr eine angebotene finanzielle Hilfe der Staatskasse von 550 Talern zur Anschaffung von Saatfrüchten in Anspruch genommen,  unter der Auflage einer Rückzahlung nach der Ernte. Sie konnte das Versprechen aber  aufgrund einer sich weiter verschlechternden  Lage und steigender Not nicht einhalten- Sie hatte auch schon vergeblich um einen Erlass der Schuld gebeten und  war auf diese Weise in eine peinliche Lage geraten. Das bewog den Gemeinderat, beim preußischen. König Friedrich IV. direkt um eine weitere Stundung der Schuld bzw. ihren völligen Erlass einzukommen. Es ist unbekannt, wie viele verzweifelte Eingaben dieser Art aus einzelnen Landesteilen eingingen, nicht erkennbar auch, ob die Bitte Erfolg hatte. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts besserte sich die Lage. durch Infrastrukturmaßnahmen und andere Initiativen  

Die Bitte um Erlass der Schuld erforderte nicht nur eine Darstellung der ursprünglichen Zwangslage, sondern auch die detaillierte Darstellung der Verhältnisse vor Ort. Aus dem zweiten Teil der umfangreichen Eingabe ist der vorliegende Auszug. Wir erfahren ausführlich und anlassbezogen, wie es damals im Land aussah, worin der Bürgermeister die Ursachen der Misere zu erkennen glaubte und inwiefern  Armutsmigration, Heiratssitten und fehlende Infrastruktur daran beteiligt waren.

Die Orthographie und Interpunktion der Übertragung  im städt. Archiv ist belassen, ein Abgleich mit dem handschriftl. Original entfiel[2].

 

b)Text

Gestatten es Ew. Königl. Majestät nun dem unterthänigst unterzeichneten Gemeinderathe: daß derselbe die Verhältnisse der hiesigen Gemeinde in Bezug auf den Lebensstand, die Ackerwirtschaft und Besteuerung vor Allerhöchst Ihnen der Wahrheit gemäß offen lege, damit Ew. Königl. Majestät so viel möglich aus eigener Anschauung zu beurtheilen vermögen, mit welcher Berechtigung der Vorstand derselben den Stufen des Königlichen Thrones zu nahen und eine allerhöchste Gnadenerweisung zu erflehen sich erlaubt.

Die Einwohnerschaft der hiesigen Bürgermeisterei besteht aus 980 in 72 verschiedenen Gehöften wohnenden Familien, wovon 152 sich auf und von ihrem Eigenthum ernähren, 258 von geringen Gewerben und Gehältern in Verbindung mit etwas Landwirtschaft; die übrigen sämmtlich, und zwar 518 vom Tagelohn in Verbindung mit etwas Kartoffel- und Haferanbau, 35 aber ausschließlich vom Tagelohn leben. 24 Familien endlich müssen ganz und gar aus Armenmitteln unterstützt werden, ja von dieser Klasse der vom Tagelohn und geringen Feldbau lebenden Familien werden durchgängig 74 Familien periodisch unterstützt. Fast die sämmtlichen theilweise oder ausschließlich vom Tagelohn lebenden Familien senden im Frühjahr ihre Hausväter ins Niederbergische, wo diese von ihrem Verdienste die baaren Groschen zu erübrigen suchen, welche sie in der Heimath zur Abzahlung der Steuern, des Schulgeldes und dem sonstigen Unterhalte der Familie nöthig haben. Ein Unglück und Krankheit, eine Mißerndte darf diese Familien nicht treffen, sonst bricht die Noth von allen Seiten ins Haus hinein; denn müßten sie nur einige Schulden machen, so fallen sie auch bald dem Gerichtsdiener anheim und sind in kurzer Zeit an den Bettelstab gebracht. Die Befürchtungen des Gemeinderaths von fast allgemeiner Verarmung der hiesigen Gegend dürften daher bei den wiederholten Mißerndten nur zu begründet seyn, und mehr als alle unsere Worte spricht zu unserm Schrecken der Umstand: daß die drey Gerichtsvollzieher des hiesigen Kreises, die vor 15 Jahren nur gegen 3000 rt [Reichstaler] jährlich einnahmen in den letzten Jahren gemäß ihrem Repertorium eine Einnahme von 8000 rt. haben. Der Steuerdiener der hiesigen Bürgermeisterei jährlich 250 Thaler einnimmt. - Aber nicht genug, daß diejenige Klasse von Familien, welche diese Tausende hergeben muß, für sich unglücklich und beklagenswerth ist: sie ist und wird nach und nach der sichere Ruin für die wenigen bemittelten Familien, denen sie zu Last fallen.

 Fragen wir nach den Ursachen dieser Armuth in hiesiger Gegend, so ergeben sich deren nach unsrem Dafürhalten vorzugsweise drey welche wir Ew. Königl. Majestät nicht gerne vorenthalten und gleichzeitig zur Allerhöchst gefälligen Prüfung vorzulegen uns erlauben möchten.

 Die erste derselben ist: der gänzliche Mangel an Verdienst in hiesiger Gegend. Wir bewohnen bekanntlich eine öde, rauhe Gebirgsgegend, deren Äcker selbst bei den günstigsten Erndten nie hinreichenden Vorrath an Lebensmittel erbringen, weßhalb insbesondere Brodkorn aus den entfernteren Niederungen eingeholt werden muß.

Große Ackergüter wo zwey und mehr Pflüge gehalten werden kennt man hier zu Lande gar nicht, bei kleinen Ackerwirthen aber ist keine Arbeit zu suchen. Keine Fabriken, keine Bergwerke und anderweitige Etablissements bieten unsern Händen Arbeit und Verdienst. Kein Handel und Verkehr belebt unsere Berge: denn die erste Bedingung zu denselben fehlt uns noch: eine Chaussee. Lange zwar schon hoffen wir auf eine solche, lange schon ist uns eine solche auch schon in Aussicht gestellt worden, aber noch immer nicht will sie in Angriff genommen und realisirt werden. Steinkohlen, Korn, die sämmtlichen Kolonialwaaren, kurz Alles was per Achse hergebracht werden muß wird uns dadurch nicht wenig vertheuert. Das 7

1/2 pfundige Brod z.B. kostet geraume Zeit hindurch hier schon 81/2 Sgr., ein Preis, der den Tagelohn eines rüstigen Arbeiters im Sommer übersteigt. Würde unsere Gegend durch eine Chaussee aufgeschlossen, der Handel- und gewerbetreibenden Welt zugänglich gemacht, so würde dieses für dieselbe von unberechenbaarem Nutzen seyn; denn die Erfahrung lehrt es, daß Chausseen dem Lande nützen. — So muß also manche Hand, die gerne arbeitete, ruhen aus Mangel an Gelegenheit; ja, wie Mancher möchte jetzt gerne bloß für die Kost arbeiten, wäre nur Arbeit für ihn da.

Eine zweite Ursache der allmählichen Verarmung hiesiger Gegend und Gemeinde glaubt der unterthänigst unterzeichnete Gemeinderath in der gar zu häufigen Parzellirung des Eigenthums finden zu müssen, welche augenfellige Nachtheile mit sich bringt und zum Frommen des Gemeindewesens bis auf ein gewißes Quantum beschränkt werden dürfte.

Die 3te Ursache endlich ist das allzuleichtfertige und unbesonnene Heirathen. Wie oft ereignete es sich schon in unserer Gemeinde, daß junge Eheleute, die kaum zu hausen angefangen hatten, auch schon bald darauf der Armenkasse zu Last fielen. Der geringste Unfall macht sie zu Bettlern, weil sie ohne Vorsorge, und durchgehends mit der strafwürdigen Beruhigung den Ehestand antraten, daß die Gemeinde im Falle ihrer Verarmung oder Arbeitsunfähigkeit die Verpflichtung habe, für sie zu sorgen. — Allerdings ist diese Ansicht durch die bürgerliche Armenverwaltung bei dem Volke zum großen Nachtheil für dasselbe, so wie zum großen Kummer der Gemeindevorsteher gang und gebe geworden, denn dieser Grundsatz führt zur Trägheit und Demoralisation, zu Armuth und Schlechtigkeit. Würde daher das Heirathen in etwa erschwert, insbesondere dadurch, daß die Heiratskandidaten, wie dieses auch in anderen Ländern besteht, von der Behörde ein gewisses Besitzthum oder ein gewisses Vermögen in Geld nachweisen müßten, wovon sie sich und die Ihrigen zu ernähren gedenken: so würden dieses vieler Armuth und vieler Schlechtigkeit vorbeugen. Von Jugend auf gewöhneten sich die Kinder zumal als Dienstbothen, schon daran zu sparen und zurückzulegen, was sie jetzt oft leichtfertig an Tand und unnützem Zeitvertreib vergeuden.

Diese drey Verhältnisse nun sind wohl, so viel der unterthänigst unterzeichnete Gemeinderath dieses zu beurtheilen vermag, die Hauptursachen, daß die hiesige Gegend und Gemeinde mit jedem Jahre größerer Verarmung anheimfällt und einem Schicksale entgegeneilt, der die Einsichtvolleren, die wenigen Bemittelten mit Angst und Besorgnis erfüllt und sie Tag und Nacht darauf sinnen läßt, wie sie selbst mit den Ihrigen denselben entrinnen mögen. — Die Lust zur Auswanderung nach Amerika ist daher rege geworden und steigert sich in einem Maaße, der abermal für die Gemeinde nichts Gutes ahnen läßt. Denn wären es die Armen die uns verlassen wollten, so gewönne die Gemeinde Erleichterung; aber diese sind es nicht, sie bleiben durch ihre Armuth an den heimischen Boden gefesselt; — nein, es sind gerade diejenigen, die noch einiges Vermögen haben und der Gemeinde Halt und Bestand verleihen können. So also schwinden die ohnehin geringen Kräfte der Gemeinde immer mehr und mehr, das Geld geht aus derselben heraus und Grund und Boden, die hier ohnehin wenig Werth haben, werden dadurch von Jahr zu Jahr noch mehr entwertet. Niederdrückende Erwägungen für einen Gemeindevorstand, dem das Wohl seiner Gemeinde am Herzen liegt!

 

Gehen wir nun dazu über ein Bild von den acker- und landwirtschaftlichen Verhältnissen der hiesigen Gemeinde zu entwerfen: so bedauern wir es im Voraus, Ew. Königl. Majestät hierüber nicht Erfreulicheres berichten zu können. So lange die 4838 Einwohner unserer Gemeinde wegen Mangels an Chausseen rein darauf angewiesen sind sich vom Ackerbau und auswärtigen Tagelohne zu unterhalten, werden sie auch immerhin mit Mangel zu kämpfen haben, da der Ertrag dieser alleinigen Erwerbsquellen die vorhandenen dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen nicht im Stande ist.

Die Bürgermeisterei, 11/4 Quadratmeile groß, enthält zwar gemäß den Katasterverzeichnissen 9793 Morgen Ackerland, aber in der Wirklichkeit nur 6255 Morgen; denn, während 1/10 des gesamten Ackerlandes durchschnittlich mit Roggen, 2/5 mit Hafer und 1/7 mit Kartoffeln bestellt wird, bleibt der Rest driesch liegen und wird nach 7– 8 Jahren erst als Schäffelland wieder gehackt, gebrannt und mit Frucht besät [….][3].

 

 

[1] Für die vollständige Wiedergabe  vgl.  O. Budde in seinem Waldbrölbuch von 1981 (S. 76–83) .

 

[3] Es folgt eine eingehende Aufstellung der Erträge der damaligen Landwirtschaft