Kurt Mai

Das Dornröschenprojekt

 

Es gibt Städte, die findet man leicht im Reiseführer, denn sie haben – wie herausragende Köche – 1, 2, manchmal sogar 3 Sterne vor ihrem Namen.

Solche Städte haben meist eine trutzige Burg mit Turm und Zinnen oder zumindest eine pittoreske Ruine, eine wehrhafte Mauer, einen historischen Marktplatz mit imposantem Rathaus, Markt und vielen historisch bedeutsamen Gebäuden sowie Kirchtürme, die von der Gottesfurcht – zumindest in vergangenen Zeiten – künden. Besonders malerisch wirkt eine solche Stadt, liegt sie an einem schiffbaren Fluss, den Brücken überspannen. Breite, im Sommer schattige, Alleen laden zum Promenieren und Verweilen.

Das alles hat unsere kleine Stadt nicht – oder doch nur zum Teil.

Von einer Burg findet sich leider nichts mehr. Überwachsene Reste aus einem tausendjährigen Reich verbergen sich hinter einer Mauer, die zwar die kleine Stadt überragt, aber weniger zum Schutz als zu Aufmärschen und Machtvorführungen dienen sollte. Dafür gibt es mitten im Ort eine Ruine mit mächtigem Turm, der einst als Wahrzeichen der Größe und Selbstüberschätzung errichtet wurde. Zum Glück wurde er noch nicht als historisches Denkmal für die Ewigkeit verpflichtet.

Unser Marktplatz füllt sich zwar alle zwei Wochen mit einem weithin bekannten Vieh- und Krammarkt, aber statt Pferden, Kühen und Schweinen gibt es nur noch Federvieh. Dennoch heißt die Markthalle – unser Waldbröler Gürzenich – beim Volk immer noch die Schweinehalle und bei festlichen Ereignissen meint man den Ursprung des Namens zu riechen. Ansonsten erscheint der Platz wenig einladend – es sei denn zum Parken.

Gottesfürchtig sind die Bewohner auch noch heute. Neben den beiden Kirchen – eine hat sogar einen Turm aus dem Mittelalter bewahrt – sind inzwischen nicht nur viele verschiedene christliche Glaubensgemeinschaften, sondern auch die großen Weltreligionen hier zu Hause und mit mehr oder weniger imposanten Gebäuden im Stadtbild vertreten.

Unser Rathaus ist ein schönes Gebäude, zwar nicht mittelalterlich, aber schon historisch. Gründete doch dort ein früherer Pastor vor über hundert Jahren eine höhere Bildungsanstalt. Leider liegt es etwas am Rande, so dass nur Besucher mit amtlichen Anliegen den Weg dorthin finden. Andere schöne – oder historisch interessante Gebäude fielen leider einem falsch verstandenen Fortschritt zum Opfer oder fristen hinter modernen Umbauten oder Fassaden ein eher kümmerliches und unbeachtetes Dasein.

Brücken benötigen wir in unserer Stadt nicht, denn der Fluss hat soeben erst als kleiner Bach begonnen und wurde schamhaft in Rohre versteckt. Bei starkem Regen, der in unserer Gegend häufig fällt, sucht er dann Wege, sich aus seiner Enge zu befreien.

Aber eine breite Straße durchzieht unsere Stadt. Zwar keine Allee mehr, denn die Bäume hat man alle gefällt. Und Bänke, Beete und Brunnen sucht man ebenfalls vergeblich. Dafür sitzt man täglich nachmittags im Stau und hat die Gelegenheit, in aller Ruhe die Auslagen der Geschäfte zu betrachten, die sich aber immer mehr leeren.

Ältere Bewohner wollen sich noch an Zeiten erinnern, als man von weither kam, um diese Stadt zu besuchen. Selbst ein berühmter Dichter aus England soll vor 100 Jahren für einige Tage den Weg in unsere Stadt gefunden haben.

Dennoch leben die Menschen gerne in unserer Stadt, denn man hatte sich an den Mangel und den Stillstand gewöhnt.

Aber dann kamen zwei wagemutige Ritter aus Düsseldorf, um die schlafende Schöne wachzuküssen.

Ob die Spröde dies zulässt oder sich eigensinnig verweigert?

 

Vorliegender Text entstand für die Auftaktveranstaltung "Waldbröl schreibt" 2013  und wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung des Autors. "Auch ein Stadtporträt" könnte der Untertitel lauten. Auf weitere Veranstaltungen der Reihe ist im aktuellen Programm des WKT hingewiesen.